Der liberale Staat verträgt keine religiöse Werteordnung
Newsletter Nr. 101 – Stastistiken mit Konfessionsfreien- und Konfessionsbezug
Die Republik ist weder ein moralisches Projekt noch ein Erziehungsinstrument.
Der liberale Staat entsteht nicht aus Ordnungslust, sondern aus Pragmatismus. Wo individuelles Handeln unvermeidlich Auswirkungen auf andere oder gemeinsame Voraussetzungen des Zusammenlebens hat, dort – und nur dort – entsteht ein Raum kollektiver Regulierung. Alles bis dahin ist privat und frei von gesellschaftlichem Rechtfertigungszwang. Lebensstile, religiöse oder nicht‑religiöse Praxis und Überzeugungen gehen niemanden etwas an, solange kein relevanter Schaden für andere entsteht. Der liberale Staat zeichnet sich daher weniger durch seine Eingriffe aus als durch seine Fähigkeit zur Zurückhaltung. Er schafft Bedingungen für größtmögliche Freiheit und nimmt Abstand davon, zum Sinnanbieter zu werden. Diese Zurückhaltung ist kein moralisches Defizit, sondern der Kern liberaler Freiheit, die nicht Beliebigkeit, sondern die Verpflichtung bedeutet, vermeidbaren Schaden für andere zu unterlassen. „Andere“ umfasst dabei nicht nur unmittelbar betroffene Personen, sondern auch jene kollektiven Voraussetzungen, deren Schutz im gemeinsamen Interesse liegt: öffentliche Sicherheit, eine intakte Umwelt und das Vertrauen in verbindliche Regeln. Wo individuelles Verhalten diese Grundlagen gefährdet, wird es politisch relevant. Wo es das nicht tut, bleibt es privat. Der Staat ist in diesem Verständnis keine Lebensanleitung, sondern der Grenzschutz größtmöglicher Freiheit.
Die vergessene Leitkultur
Gerade diese weite Umfriedung persönlicher Freiheit gerät derzeit wieder unter Druck, von reaktionären Kräften enger gezogen zu werden. Im politischen Diskurs wird dabei versucht, gesellschaftliche Spielregeln nicht über einen gemeinsamen, abstrakten Rahmen herzustellen, sondern über gelebte Traditionen und eine vermeintlich überlegene Kultur, die mit einem Wertekanon gleichgesetzt wird. Diese Kultur ist zwar wertegeladen, muss aber von staatlicher Normsetzung entkoppelt werden.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff der Leitkultur mittlerweile gemieden wird. Offensichtlich hat man (gemeint ist v. a. die Volkspartei) erkannt, dass das entsprechende Konzept von Bassam Tibi entweder nicht verstanden wurde oder nicht anschlussfähig ist. Denn Tibis Leitkultur fordert explizit eine klare Trennung von Staat und Religion. Genau dieser säkulare Ansatz kollidiert mit dem eigentlichen Anliegen der Akteure (gemeint ist v. a. die Volkspartei): Es geht ihnen nicht um einen schlanken, von allen akzeptierten Konsens, sondern um die staatliche Setzung eines religiös begründeten Verhaltenskodex.
Mehrheitsmoral
Zur Legitimation dieses Anspruchs wird Meinungsforschung bemüht. Sie soll nahelegen, eine überwältigende Mehrheit sehe das Land als christlich geprägt oder empfinde eine unüberbrückbare kulturelle Distanz gegenüber Menschen, die anderen Weltanschauungen anhängen, und insbesondere gegenüber Muslimen. Aus solchen Zählungen wird der Schluss gezogen, dass aus dem „christlichen Erbe“ verbindliche gesellschaftliche Normen abzuleiten seien, und zwar auch für jene, die diese Erbschaft gar nicht angetreten haben oder nur jene Teile daraus akzeptieren, die mit einer offenen Gesellschaft kompatibel sind.
Dieser Ansatz entspringt einem grundlegenden Missverständnis liberaler Staatlichkeit. Eine moderne Gesellschaft ist keine Wertegemeinschaft im religiösen oder ideologischen Sinn, sondern ein multimoralisches soziales System. In Österreich ist heute weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied der katholischen Kirche, rund ein Drittel ist konfessionsfrei, zahlreiche andere Traditionen sind sichtbar und dauerhaft Teil der Gesellschaft. Diese Pluralität ist verbunden mit einer weiteren Abnahme der Religiösität über alle Konfessionen hinweg die Normalform des 21. Jahrhunderts. Der Staat vereint unterschiedliche Weltanschauungen und Lebensentwürfe unter einem gemeinsamen Rechtsrahmen, ohne diese inhaltlich zu vereinheitlichen.
Richtig verstandene Toleranz
Das Zusammenleben in einer solchen Gesellschaft lässt sich nicht dadurch sichern, dass ein tradiertes Wertesystem, dem sich große Teile der Bevölkerung faktisch nicht mehr verpflichtet fühlen, für alle verbindlich erklärt wird. Gerade das unterscheidet den liberalen Rechtsstaat von vormodernen Ordnungen. Er regelt das Zusammenleben nicht über die Errichtung einer moralischen Monokultur, sondern über geteilte Regeln und eine Toleranz zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, die nicht zu verwechseln ist mit staatlicher Duldung. Der Staat verlangt keine Zustimmung zu bestimmten Überzeugungen, sondern die Einhaltung von Gesetzen. Wer versucht, aus Traditionen verbindliche Werte abzuleiten, verwechselt kulturelle Herkunft mit politischer Daseinsberechtigung.
Besonders problematisch ist dabei der Versuch, die Werte der Aufklärung nachträglich religiös zu begründen. Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz oder die Trennung von Staat und Religion werden neuerdings gern zu christlichen Werten umgedeutet, die sich angeblich organisch aus religiöser Tradition ergeben hätten. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern politisch irreführend. Die Aufklärung ist der noch immer laufende, nicht abgeschlossene Prozess, politische Ordnung von religiöser Legitimation zu lösen.
Linke und rechte Moralpolitik
Linke wie konservative Staatsvorstellungen teilen hier oft mehr, als ihnen lieb ist: Beide sehen den Staat in der Rolle, gesellschaftliche Werte durchzusetzen. Der Unterschied liegt im Inhalt der Werte, nicht im Instrument als Sittenwächter.
Linke Ideologien begreifen den Staat häufig als Werkzeug gesellschaftlicher Korrektur. Ungleichheiten gelten als politisch verantwortbare Zustände, die aktiv verändert werden sollen. Gleichheit im Ergebnis wird mitunter zur staatlichen Zielgröße, während Freiheit nur so lange gilt, wie sie diesen normativen Zielen nicht entgegensteht. Konservative sehen im Nationalstaat dagegen den Hüter einer gewachsenen Ordnung. Religiös begründete Werte sollen gesellschaftliche Stabilität sichern. Auch hier wird der Staat zur normativen Instanz, die entscheidet, welche Lebensformen als schützenswert gelten.
Aus liberaler Sicht liegt das Problem nicht in den jeweiligen Werten, sondern in ihrer Verstaatlichung. Wo der Staat gesellschaftliche Ergebnisse optimieren oder kulturelle Normen setzen will, überschreitet er seine Zuständigkeit. Linke wie konservative Positionen akzeptieren diese Eingriffe ins Private.
Der laizitäre Staat
Der liberale Staat verweigert sich dieser Logik. Er schützt Verfahren statt Ergebnisse und begrenzt Macht, anstatt Sinn zu stiften. Daraus folgt zwingend seine weltanschauliche Neutralität. Ein Staat, der Moral und Glauben in den privaten Bereich verlagern will, kann nicht zugleich religiöse Traditionen zum Maßstab politischer Ordnung machen.
Genau hier wird eine zeitgemäße Laizität zur notwendigen Konsequenz liberaler Staatlichkeit. Sie ist keine Religionsfeindlichkeit und schon gar nicht säkularer Ersatzglaube, sondern die konsequente Trennung von Staat und Weltanschauung insgesamt. Der Staat privilegiert keine Religion, aber auch keine säkulare Überzeugung. Er interessiert sich nicht dafür, warum jemand bestimmte Werte teilt, sondern nur dafür, dass die Regeln eingehalten werden. Er sanktioniert Handlungen, nicht Haltungen.
Der liberale Staat ist keine Werteanstalt. Er ist kein moralischer Erzieher und kein Bewahrer kultureller Identität. Seine Stärke liegt nicht in der Definition des guten Lebens, sondern in der bewussten Begrenzung seiner Zuständigkeit. In einer multimoralischen Gesellschaft ist genau diese Zurückhaltung die Voraussetzung dafür, dass Zusammenleben gelingen kann.
Statistiken über Konfessionen und Konfessionsfreie
Dass mit Statistik Politik gemacht, ist bekannt. Das kann verantwortungsvoll passieren oder demagogisch. Evidenzbasierte Politik ist jedenfalls von einer Vorgangsweise, die Meinungsforschung zur Durchsetzung ihrer Ideologie benützt, abzutrennen. Es besteht auch ein Unterschied, ob Merkmale gezählt, die Ergebnisse ausgewertet und anhand objektiver Ereignisse interpretiert werden oder ob Meinung erhoben und dann tendenziös wiedergegeben wird, wie es die ÖVP aktuell vorzeigt.
Es geht aber auch anders. Balázs Bárány (Präsident des HVÖ und im Vorstand der Konfessionsfreien) versteht jedenfalls sein statistisches Handwerk und ist – und das kann ich bestätigen – sorgsam im Umgang mit Daten. Balázs hat mit StatKB (Stastistiken mit Konfessionsfreien- und Konfessionsbezug) ein neues Service etabliert, das die österreichische Bevölkerung in ihrer weltanschaulichen Zusammensetzung erfasst. Damit können wir arbeiten.
Danke dafür!




